SPD Hohen Neuendorf

"Die Politik hätte früher handeln müssen" - Peer Steinbrück im Tagesspiegel-Interview

Veröffentlicht am 23.11.2008 in Bundespolitik

Der Tagesspiegel, 23.11.2008
"Wir sind in einer Rezession, und es liegt ein schweres Jahr 2009 vor uns", sagt Peer Steinbrück. Der Bundesfinanzminister über die Krise, Schutzschirme – und große Karos.

Sie haben von der schwersten Finanzkrise seit Jahrzehnten gesprochen. Wann haben wir das Schlimmste überstanden?

Das kann niemand sagen. Und wenn Sie einen kennen, der das sagt, dann glauben Sie ihm nicht. Wer hätte vor zwölf Wochen die Insolvenz von Lehman Brothers vorhergesehen oder vor acht Wochen gedacht, dass Island kurz vor einem Staatsbankrott steht? Was ich weiß, ist: Wir sind in einer Rezession, und es liegt ein schweres Jahr 2009 vor uns.

Wie viel Geld ist bis jetzt verbrannt?

Bis jetzt werden die weltweiten Wertberichtigungen auf 1,5 bis zwei Billionen US-Dollar geschätzt. Wie viel davon verbrannt ist – das heißt, wie viele Anlagen nicht wieder werthaltig werden –, das wird man erst wissen, wenn die Märkte wieder Vertrauen fassen.

Die Bundeskanzlerin hat den Deutschen versprochen: Eure Spareinlagen sind sicher. Gilt das auch für das Geld deutscher Kunden isländischer Banken?

Gemeinsam mit den Niederlanden und den Briten haben wir in diesem Sonderfall eine Lösung gefunden, damit auch die deutschen Kunden der isländischen Kaup thing-Bank ihre Einlagen vollständig zurückerhalten. Sie werden vom isländischen Einlagensicherungssystem so behandelt wie isländische Kunden. Wir werden dem isländischen Staat behilflich sein, diese Zusage zu erfüllen. Es geht um rund 308 Millionen Euro, die deutsche Sparer bei dieser Bank angelegt haben.

Gier und Maßlosigkeit nannten Sie anfangs als Quellen der Krise. Stimmt das noch?

Die Jagd nach Margen hat das Risikobewusstsein verkümmern lassen. So entstanden Bankgeschäfte in gewaltigem Ausmaß, die in keinem Verhältnis zur Wirtschaftskraft der Institutionen standen.

Nichts davon war und ist illegal.

Richtig. Woran es gefehlt hat, das ist ausreichende Transparenz über die vorhandenen Risiken und eine erfolgreiche Regulierung von Produkten und Märkten.

Schon unter Rot-Grün gab es Debatten über regulierungsfreie Räume. Kritikern wurde vorgehalten, Regulierung schade der freien Entfaltung des Finanzplatzes Deutschland. Wieviel Schuld hat die Politik?

Man darf Ursache und Wirkung nicht vertauschen. Verantwortung tragen in erster Linie die Marktteilnehmer selbst. Richtig ist aber: Die Politik hätte sich früher einschalten müssen. Das haben nicht nur wir lernen müssen, sondern auch die Kollegen etwa in London, Washington oder Brüssel. Ich gebe allerdings auch zu bedenken: Vor einigen Jahren hat die Öffentlichkeit geglaubt, dass die Entwicklungen auf den Finanzmärkten zu nichts anderem als Wohlstand führen werden, den man nicht bremsen darf. Das freie Spiel der Märkte war sehr angesagt. Noch 2007 in Heiligendamm wurde diese Bundesregierung scheel angesehen, als sie das Thema der Regulierung ganz oben auf die Tagesordnung hob.

In Heiligendamm sind Sie gescheitert. Haben Sie jetzt mehr Erfolg?

Wir sind nicht gescheitert. Es war der Beginn der Debatte. Und immer mehr stimmen uns nun zu. Jetzt ist die Offenheit auch der Angloamerikaner größer, weil die vor den Trümmern ihrer Finanzmärkte stehen. Die Offenheit rührt jedoch weniger aus moralischer Einsicht denn aus ökonomischer Not.

Die Regierung hat einen Rettungsschirm von 500 Milliarden Euro über den Banken aufgespannt. War das nicht übertrieben?

Nein, das war notwendig. Aber diese Zahl ist so gigantisch, so weit weg vom Leben der Menschen, dass man sie genau erklären muss. Wichtig ist: Das ist kein Geld für Banker oder Banken, und schon gar nicht ohne Gegenleistung. Das Geld ist für alle Sparer, alle Handwerker, alle Kommunen und alle Betriebe im Land, denn jeder braucht ein funktionierendes Bankensystem.

Die Banken brauchen es offenbar nicht, so zögerlich, wie sie unter den Schirm schlüpfen.

Der Interbanken-Verkehr ist immer noch nicht ans Laufen gekommen. Ziel des Schutzschirmes ist es, das Vertrauen zwischen den Banken wiederherzustellen. Das beginnt langsam zu greifen. Die Banken kommen nach und nach.

Sind die Bedingungen für Bürgschaften und Beteiligungen zu hart?

Nein, und ich glaube, dass wir bald ein anderes Bild haben werden. Das Beispiel der Commerzbank, die sehr verantwortlich und klug gehandelt hat, zeigt, dass es ein Zeichen von Solidität ist, die Angebote des Staates anzunehmen.

Das Misstrauen der Banken führt dazu, dass sie Firmen keine Kredite mehr geben.

Es ist schon schlimm genug, dass die Kreditkonditionen schärfer werden. Eine Kreditklemme haben wir aber bisher nicht. Damit wir dorthin nicht kommen, bietet die KfW kleineren und mittleren Unternehmen Bürgschaften im Gesamtrahmen von 15 Milliarden Euro an. Ich appelliere an die Unternehmen, diese Möglichkeiten zu nutzen.

Die EU-Kommission will ein 130 Milliarden Euro großes Konjunkturpaket anstoßen.

130 Milliarden Euro sind ungefähr ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes der EU. Das ist umgerechnet auf Deutschland weniger, als wir bereits auf den Weg gebracht haben.

Heißt das, wir halten uns da raus?

Nein, aber die Bundesregierung hat Anfang Oktober und Anfang November Schutzschirme für Banken und Arbeitsplätze beschlossen. Das sind 32 Milliarden Euro an öffentlichem Geld, also mehr als ein Prozent unseres Sozialproduktes. Die müssen doch jetzt erst einmal wirken. Wenn die EU-Kommission in dieser Woche ein europäisches Paket fordert, wird unser Anteil darauf anzurechnen sein.

Als größte EU-Volkswirtschaft entziehen wir uns der europäischen Lösung?

Nein, gerade nicht. Wir tun genau das, was die Kommission fordert. Und zwar sehr klug. Es ist doch grotesk, wie schnell wir die Anstrengungen von gestern vergessen und heute schon rufen: Das reicht nicht. Die Regierung hat zum Beispiel die Arbeitslosenbeiträge gesenkt. Das entlastet allein um 30 Milliarden Euro. Von den Wirkungen der Unternehmensteuerreform und weiteren Entlastungen für 2009 und 2010 ganz abgesehen. Ich bin es leid, wie in einem Rattenrennen ständig neue Forderungen entgegenzunehmen und mich dafür rechtfertigen zu müssen, dass ich nicht jede Milliardenzeche bereitwillig bezahle. Mit Kon junkturprogrammen ohne Maß, davon bin ich überzeugt, verbrennt man nur Geld.

Die Sachverständigen raten, in der Krise nicht zu kleckern, sondern zu klotzen.

Dieselben Leute, die noch vor ein paar Wochen hier saßen und mir erklärt haben, Konjunkturprogram me seien Gift, und das Hohelied der Haushaltskonsolidierung sangen, predigen jetzt das komplette Gegenteil. Was, bitte, soll ich von diesem Rat halten? Ich set ze auf Beständigkeit und sa ge: Kurs halten. Sehen wir es nüchtern. Wenn ich weitere 25 Milliarden Euro in den Kreislauf pumpe, werden die Schuldzinsen darauf noch unsere Enkel bezahlen, und sie werden trotzdem nichts bewirken. Gegen eine weltweite Krise kann auch Deutschland nicht anfinanzieren.

Hätten Sie sich vorstellen können, dass Opel vor Ihrer Tür steht und eine Milliardenbürgschaft haben will?

Nein. Aber ich muss feststellen: Die Lage von Opel hat im Vergleich zu anderen Auto-Unternehmen etwas Besonderes durch den Konzernverbund, in dem Opel sich mit der amerikanischen Mut ter befindet. Mir ist bewusst, dass es die Gefahr gibt, Trittbrettfahrer einzuladen. Deshalb bin ich durchaus auf der Seite der Skeptiker, was solche Staats hilfen angeht. Aber um die Beurteilung des Einzelfalls kann ich mich nicht drücken.

Und wenn Opel ein Jahr später am Ende ist, weil der deutsche Automarkt zusammenbricht?

Ich muss Politik machen, trotz unsicherer Situation. Wenn ein solches Unternehmen pleiteginge und, direkt und indirekt, 50 000 Menschen arbeitslos würden, dann kostete das den Steuerzahler zwei bis drei Milliarden Euro jährlich. Da muss ich eine Abwägung treffen. Wenn ein gesundes Unternehmen wie Opel über eine staatliche Hilfe dauerhaft weitermachen kann, dann wäre es unverantwortlich, sich mit der Anfrage von Opel nicht zu beschäftigen.

Warum wird den Großen geholfen, aber den Kleinen nicht?

Genau das passiert hier eben nicht. Hinter Opel stehen Zehntausende von Arbeitsplätzen im Mittelstand. Aber allgemein gesprochen verstehe ich solche Fragen. Deshalb dürfen wir auch nicht nur die ökonomischen Faktoren, sondern müs sen auch die sozialen und politischen Kosten abwägen. Natürlich fragen sich viele Menschen: Wo ist die Balance zwischen denen da oben und uns, den Großen und den Kleinen? Da kann das Modell der sozialen Marktwirtschaft leicht in Legitimationsprobleme geraten. Ich finde allerdings, dass es angesichts der Tiefe dieser Krise in unserem Land bisher erstaunlich vernünftig läuft. Auch dank der Medien.

Vielleicht, weil die Krise für die meisten Menschen einfach noch nicht spürbar ist?

Freuen wir uns, dass es bisher noch keine negativen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt gegeben hat. Die Quartalszahlen der Konjunkturentwicklung sind zwar negativ, die Monatszahlen über den Arbeitsmarkt aber zum Glück noch positiv. Das ist auch ein Effekt der Reformen der Regierung Schröder. Die alte Koppelung von Wachstum und Arbeitsmarkt ist flexibler geworden. Wachstum führt schneller als bisher zu neuen Arbeitsplätzen. Umgekehrt führt ein Abschwung nicht mit der gleichen Härte wie früher dazu, dass die Menschen auf die Straße gestellt werden.

Was spricht gegen den französischen Vorschlag eines europäischen Staatsfonds?

Wir reden über eine typische europäische Konstruktion. Wer zahlt am meisten ein in eine solche Konstruktion? Die Deutschen! Wenn wir über europäische Lösungen reden, dann sollte es um gemeinsame Spielregeln gehen. Dann muss aber der Subsidiaritätsgrundsatz gelten, dass jede Nation Prinzipien und Handlungsanweisungen nach ihren spezifischen Verhältnissen anwendet. Die Lage unterscheidet sich doch von Land zu Land. So haben wir es vernünftigerweise mit dem Paket gegen die Finanzkrise auch gehalten.

Unter dem Druck der Finanzkrise mussten Sie das Ziel aufschieben, bis 2011 den Haushalt zu konsolidieren. Ist das Ziel realistisch, in der nächsten Legislatur einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen?

In dieser unsicheren Phase kündige ich kein neues Datum an. Ich sage: Das Ziel ist richtig und bleibt auf der Agenda. In dieser Krise müssen wir dem guten alten britischen Grundsatz folgen „first things first“. Aber wenn wir die Krise erfolgreich überstanden haben, richtet sich der Kompass wieder auf ausgeglichene Haushalte.

Halten in einer solchen Situation überhaupt Maßstäbe, die über die Feuerlöschaktionen hinausreichen?

Sie sind wichtiger als je. Ich glaube auch, dass sie zu erkennen sind. Dazu gehören Klarheit, Beständigkeit und Verlässlichkeit. Wir haben uns auf Maßnahmen konzentriert, die strukturell wirken, zum Beispiel die Gebäudesanierung oder die Verbesserung der kommunalen Infrastruktur. Oder: Wir stützen den Mittelstand. Und das alles mit Maß. Wer jetzt versucht, maßlose Steuersenkungsforderungen durchzusetzen, dem kann ich nur sagen: Diese Richtung ist falsch, weil wir damit unsere Kinder und Enkel belasten, ohne halbwegs verlässliche Effekte auf das Wachstum zu erzielen. Richtig wäre eher eine Entlastung der unteren Einkommensgruppen. Das geht aber nicht über Steuersenkungen, sondern nur über niedrigere Sozialabgaben. Dafür hat die SPD Vorschläge gemacht.

Hat sich die Situation in der SPD verbessert, seit sie vom Duo Steinmeier und Müntefering geführt wird?

Eindeutig ja. Es gibt eine enge Abstimmung zwischen beiden und eine breite Übereinstimmung in der SPD-Führung. Die allgemeine Verunsicherung hat sich verflüchtigt. Wir haben die beste Aufstellung der SPD, die wir jetzt haben können.

Wie kommt es dann zu Vorkommnissen wie denen um das BKA-Gesetz, den Einsatz der Bundeswehr im Inneren, die Kfz- Steuer, wo Fraktion und Landesverbände der Führung nicht folgen?

Ach du liebe Güte, jetzt doch nicht so kleines Karo. Die Sache mit der Kfz-Steuer habe ich bedauert, weil damit ein kleines Detail die gesamte Kommunikation über den Schutzschirm für Arbeitsplätze bestimmt hat. Zum Übrigen sage ich: In beiden Volksparteien gibt es immer wieder inhaltliche Dissense. Das passiert halt.

Noch einmal: Was hat sich an der Situation der SPD fundamental verbessert?

Die SPD weiß, dass sie in dieser Konstellation im Jahr 2009 geschlossen in die Wahl gehen kann. Dieses Bewusstsein ist da. Der Gleichklang in der Führung unterscheidet sich deutlich von der Phase, die wir bis zum September hatten.

Wie oft kann die SPD Vorschläge ablehnen, die ihr Kanzlerkandidat verhandelt hat?

Da stellt doch niemand die Position des Kanzlerkandidaten in Frage. Das sind völlig überzogene Interpretationen von Sachdebatten. Inhaltliche Streitereien dieser Art passieren in der CDU doch ähnlich. Das kommt vor in Volksparteien. Die SPD wird sich am Ende sammeln, denn wenn sie 2009 eine Chance haben will, dann nur in großer Geschlossenheit unter der jetzigen Führung. Denken Sie an 2005: Abgerechnet wird am Ende. Unser Ziel ist es, den Anteil der SPD zu maximieren. Das werden wir gemeinsam auch schaffen.

Das Interview führten Tissy Bruns, Stephan Haselberger und Antje Sirleschtov. Das Foto machte Mike Wolff.

Peer Steinbrück (51) ist Bundesfinanzminister. Steinbrück begann seine Berufslaufbahn in diversen Bundesministerien und dem Kanzleramt. Später diente er als Staatssekretär in mehreren Ministerien Schleswig-Holsteins.

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